Die Perfektionismusfalle – Warum 100 Prozent oft unnötig sind

Alles perfekt machen zu wollen, dass ist vor allem unter Selbstständigen eine verbreitete Eigenschaft. Denn natürlich macht es einen Unterschied, ob man in eigenem Namen handelt oder lediglich Mitarbeiter eines Unternehmens ist. Aber auch unter Angestellten gibt es viele Perfektionisten. Was zunächst einmal gut klingt, kann schnell zur Falle werden. Dann nämlich, wenn das ständige Streben nach Qualität dazu führt, dass man das große Ganze aus den Augen verliert.

Dieser Artikel beleuchtet verschiedene Aspekte des Perfektionismus und macht auf diese Weise deutlich, warum ausgerechnet Unvollkommenheit der bessere Weg ist. Wer an sich selbst nicht zu hohe Ansprüche stellt, der erzielt nicht nur bessere, günstigere und schnellere Endergebnisse, sondern schont auch seine Gesundheit und steigert sein Wohlbefinden.

Die Perfektionismusfalle

Eingefleischte Perfektionisten haben den Ehrgeiz immer alles richtig zu machen. Mindestens 100 Prozent abzuliefern, besser noch 120 Prozent. Perfektionisten machen eine Sache ganz oder gar nicht.

Die Gründe dafür sind mannigfaltig. Bei den einen ist es das Verlangen nach Anerkennung und Beifall. Die anderen wollen sich mit übertriebenem Ehrgeiz vor Kritik schützen. Dritte haben Versagensängste. Andere flüchten vor etwas.

Es gibt Persönlichkeiten, bei denen die ständige Selbstoptimierung veranlagt ist und sich durch alle Lebensbereiche zieht. Sie geben nicht nur ihr Bestes im Job, sondern sind auch im Privatleben Pedanten. Diese Menschen können nicht anders, der Perfektionismus gibt ihnen Halt. Er ist ihre Lebensaufgabe.

Wer für etwas brennt, ist Perfektionist

Neben diesen Extremen gibt es aber auch den Teilzeitperfektionisten, den wir alle kennen. Er brennt für eine Sache ganz besonders. Und damit gibt er sich besondere Mühe. Bei den einen ist es der Traumberuf, bei den anderen ein Hobby. Und Putzteufel lieben es eben in einer ordentlichen und sauberen Umgebung zu leben.

Für den leidenschaftlichen Blogger ist sein Blog wie ein Baby. Er investiert jede freie Minute, um ihn zu optimieren. Pixel werden hin- und hergeschoben, bis die Optik endlich stimmt. Texte fünfmal korrigiert, weil sich immer etwas noch besser formulieren lässt. Während er in Sachen Blog absoluter Perfektionist ist, stapelt sich im Bad die Schmutzwäsche. Weil die Liebe fürs Wäschewaschen aber nicht ansatzweise so sehr ausgeprägt ist wie für das Bloggen, kann er damit gut leben.

Ein hoher Qualitätsanspruch an die eigene Dienstleistung oder das eigene Produkt ist alles andere als verwerflich. Wer bewusst optimiert, ohne sich in Details zu verlieren, dem wird der eigene Perfektionismus nützen. Viel zu häufig steigern wir uns aber in ihn hinein.

Statt die neue Nischenseite endlich online zu stellen, wird hier noch etwas geändert und dort noch etwas verschoben. Meist Kleinigkeiten, die niemandem anderen auffallen außer uns selbst. Klar, beschäftigen wir uns doch schon seit Wochen mit nichts anderem. Und weil man nichts Unvollkommenes ins Netz stellen will, wird eben weiter dran gearbeitet. Was gestern noch gut war, ist am nächsten Tag häufig bereits einer Überarbeitung würdig. Die perfekte Seite wird nie online gehen.

Dieses Beispiel zeigt wie anstrengend, kräftezehrend und zeitraubend Perfektionismus sein kann. Es zeigt, wie schnell man einen Tunnelblick bekommt und im Teufelskreis gefangen ist. Aus Effizienz wird bestenfalls Effektivität. Schlimmstenfalls wird das Streben nach Perfektionismus zur Prokrastination.

Fehler sind dazu da, begangen zu werden

Wären wir alle Chirurgen, wäre die Perfektion noch nachvollziehbar. Es gibt einige wenige Berufe, die dürfen keine Fehler machen. Für alle anderen aber gilt: Wer keine Fehler machen will, hat den größten schon begangen.

Es ist ein Fehler, keine Fehler machen zu wollen. Oft lassen sich Fehler einfach beheben, haben kaum Konsequenzen. Aus nichts lernt der Mensch besser, als aus Fehlern. Fehler dürfen gemacht werden, sie sollten sich nur nicht wiederholen.

Über den ehemaligen IBM-Chef Thomas Watson gibt es dazu eine schöne Anekdote: Einer seiner Mitarbeiter hat einen fatalen Fehler begangen, der das Unternehmen 600.000 US-Dollar gekostet hat. Als Watson gefragt wurde, ob der den Mitarbeiter denn entlassen habe, antwortet er nur: “Ich habe gerade 600.000 US-Dollar in seine Ausbildung investiert. Warum sollte jemand anderes diese Erfahrung gratis bekommen?”

Manchmal führen gerade Fehler und Irrtümer zum Erfolg, zur zündenden Idee. Dynamit, Impfung, Haftnotizzettel, Herzschrittmacher, Mikrowelle, Teflon und Viagra – alles große Erfindungen der Menschheitsgeschichte. Und alle aus Fehlern entstanden. Ohne Navigationsirrtum hätte Christoph Kolumbus nie Amerika entdeckt.

Was ist guter Perfektionismus?

Weniger perfekt zu sein bedeutet nicht gleich Mittelmaß oder ein Versager zu sein. Ehrgeiz und Perfektionismus werden zur Gefahr, wenn wir unsere Selbstachtung und unser Selbstwertgefühl ausschließlich von unserem Erfolg abhängig machen. Wer sich persönlich über Perfektion definiert, der setzt sich einem Leidensdruck aus, der auf Dauer krank machen kann. Zumal Perfektionismus eine völlig subjektive Sache ist. Was für den einen vollkommen ist, ist für den anderen ausbaufähig. Perfektion ist Ansichtssache. Wir können es nicht allen recht machen.

Es ist also vor allem für uns selbst wichtig, dass wir guten von schlechtem Perfektionismus unterscheiden können. Guter Perfektionismus ist nicht nur, aber vor allem nach innen gerichtet. Und genau da kommt er auch her. Guter Perfektionismus legt die hohen Ansprüche und Erwartungen an einen selbst, nicht an dritte. Guter Perfektionismus ist ein Lernprozess, den man nicht von Geburt an beherrscht. Er besteht aus täglichem hinzulernen und weiterentwickeln. Mein Lieblingszitat dazu stammt vom deutschen Schriftsteller Gerhart Hauptmann: “Sobald jemand in einer Sache Meister geworden ist, sollte er in einer neuen Sache Schüler werden.”

Perfektion kann den Erfolg sogar mindern. Wäre die Nischenseite früher online gegangen, hätte sie von den Suchmaschinen bereits indexiert werden und erste Besucher anlocken können. Während man ganz in Ruhe daran weiter feilen kann, werden vielleicht sogar erste Umsätze generiert. Das anfängliche Besucherverhalten hilft Schwachstellen zu erkennen und die Seite weiter zu verbessern.

Jeder neue Dienst von Google, der auf den Markt kommt, ist im Grund unfertig und wird erst im laufenden Betrieb optimiert. Beta-Version nennt sich das.

80 Prozent sind vielfach besser

Perfektion ist häufig gar nicht nötig. Um erfolgreich zu sein muss man schließlich nur besser als die anderen sein. Und die anderen sind bei weitem nicht alle perfekt. Dazu ein alter Managerwitz: Zwei Wanderer begegnen im Wald einem Bären. Der eine Wanderer reagiert umgehend, indem er seine schweren Wanderstiefel gegen leichte Laufschuhe tauscht. “Was soll das denn?”, fragt sein Freund. “Damit kommst du auch nicht weit!” Daraufhin erwidert der andere: “Es reicht schon, dass ich schneller bin als du!”

Perfektion gibt es überall auf der Welt, im korrekten Deutschland scheint die Eigenschaft jedoch besonders verbreitet zu sein und besonders ernst genommen zu werden. Während man sich in den Vereinigten Staaten von Amerika darüber freut, wenn ein Projekt zu 80 Prozent gelungen ist, fragt man sich hierzulande, wenn ein Projekt 97 Prozent erreicht hat, woran es bei den restlichen drei Prozent gescheitert ist.

Dabei bringen 80 Prozent in vielen Fällen mehr als das absolute Optimum. Schon das Paretoprinzip besagt, dass 80 Prozent der Ergebnisse mit 20 Prozent des Gesamtaufwandes erreicht werden. Die verbleibenden 20 Prozent benötigen mit 80 Prozent die meiste Arbeit. Und genau diese restlichen 20 Prozent sind es, in denen man sich meisten verzettelt. Wer sich von Anfang an die 80 Prozent als Ziel setzt, der ist viel motivierter, weil er ein erreichbares Ziel vor Augen hat.

Wer immer 100 Prozent bringen will, oder immer besser als die anderen sein muss, der überfordert sich selbst. Das führt dazu, dass die Motivation nachlässt und irgendwann schlimmstenfalls nur noch Dienst nach Vorschrift gemacht wird. Man hat sich die gesunde Perfektion, die letztlich der Schlüssel zum Erfolg ist, kaputt gemacht.

Fazit

Perfektionismus hat gute und schlechte Seiten. Wer sich Mühe gibt, ohne das große Ganze aus den Augen zu verlieren, der fährt am besten. Nicht die letzten drei Prozent sind erfolgsentscheidend, sondern das, was vorher kommt. Zu viel Optimierungswahn behindert uns letztlich nur.

Nobody is perfect. Und das ist auch gut so.

16 Gedanken zu „Die Perfektionismusfalle – Warum 100 Prozent oft unnötig sind“

  1. Kann sein, dass es an meinem beruflichen Hintergrund liegt (Softwareentwicklung mit Agile-Ansätzen), aber ich bin in meinen Projekten inzwischen zum Inkrementalismus übergegangen.

    Lieber veröffentliche ich eine schlechte Seite als gar keine Seite. Und morgen wird dann die Sitemap angepasst. Und übermorgen wird die Hauptseite überarbeitet. Und und und…

    Das führt nicht nur dazu, dass die Seite (wie im Artikel erwähnt) schon indiziert werden kann oder gar Geld verdient. Man hat durch die kleinen Arbeitsschritte einen konstanten Fortschritt und viele kleine Erfolgserlebnisse. Und jeder kleine Schritt motiviert einen wieder weiter zu machen.

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  2. 100% sind besser als 80% das sagt die Mathematik 😉

    aber wenn die fehlenden 20% nur mit unverhältnismäßigem Mehraufwand zu erreichen sind, sind 80% besser. So sehe ich das!

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  3. Dazu passt noch, dass Die Qualität “nur” gerade so gut sein muss, dass der Kunde sie akzeptiert. Das mag im Einzelfall sicherlich immer anders sein, aber demnach bringt es nichts eigenen Perfektionsansprüchen hinterher zu rennen, wenn der Kunde schon weniger akzeptieren würde.

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  4. 100 % sind für Perfektionisten nicht zu erreichen, irgendwas kann man immer besser machen 😉 Deshalb bin ich auch mit 80 % zufrieden und kann wieder ruhiger schlafen, ohne dass sich ständig das Gedankenkarussell um die neue Website dreht… Die Qualität meiner Seite muss so gut sein, dass ich sie selber gerne ansehe und sie auch gerne meinen Freunden weiterempfehle…
    VG Sonja

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  5. Guter Beitrag, den werd ich in Zukunft meinen Kunden zu lesen geben, die meinen ihre neue Homepage oder ihr neuer Onlineshop darf erst online gehen, wenn alles zu 100% perfekt ist.

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      • Das kommt darauf an.

        Ich habe solche und solche Kunden. Momentan habe ich einen Kunden aus dem Bereich gehobenes Innenraumdesign. Da wird um jeden Pixel gerungen. Dazu kommt Printdenken und keinerlei Kenntnis von RWD. Ich kann die grauen Haare schon gar nicht mehr zählen, die sich mittlerweile während des Projekts aufgetan haben. Aber gut, je mehr kommt am Ende rein.

        Handwerker z. B. wollen es dagegen meist hinter sich haben. Da ist die Kompromisbereitschaft erheblich höher. Hauptsache fertig.

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  6. Sehr guter Artikel, meine damalige Perfektion hat mich zu einem Burn Out geführt. Nach einigen Jahren als Grafiker in Werbeagenturen habe ich mich selbständig gemacht und durch den Perfektionismus ging ich kaputt. Jetzt bin ich wieder in Festanstellung und versuche langsam wieder Fuß zu fassen, damit ich wieder komplett selbständig sein kann. Wie oben schön beschrieben “Fehler dürfen gemacht werden, sie sollten sich nur nicht wiederholen.” Ich denke ich habe aus meinen Fehlern gelernt und bin auf einem guten Weg.

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  7. Es kommt eben auch immer auf die Zielgruppe an – erwartet Sie wirklich die 100% oder reichen generische Informationen zum Zwecke der Zielerreichung vollkommen aus? Dennoch wird gerade in der Selbstständigkeit der Anspruch auf 100% hochgehalten – aber man muss dies beim Ergebnis im Vergleich zu 80% eben auch sehen und spüren können.

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  8. Sehr interessanter Artikel! Es ist wirklich ein schwierige Gratwanderung – auf der einen Seite will man perfekt sein, weil man das liebt was man tut und auf der anderen Seite kann ein überzogener Perfektionismus verhindern, dass man sein Ziel erreicht.

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  9. Sehr richtig diese Sichtweise.
    Klar, will man meist 100% geben. Aber meist ist dann doch “weniger mehr”. Das Sprichwort hat da schon voll und ganz seine Berechtigung.

    Denn meist ist es alles eine Sache des Abwägens und so ist es dann besser eher (nur) 80% zu geben und den durch Perfektionismus getriebenen 20prozentigen zeitlichen Mehraufwand lieber hintenan zustellen. Wer immer alles geben möchte, wird auch meist nie wirklich fertig. Dann lieber 80 statt 100 Prozent und die Dinge ins Laufen bringen.

    Man ist auch wirklich motivierter, wenn man eben weiß, dass man nicht zwangsweise überall 100 Prozent geben muss. 80% als Ziel reichen oft halt auch. Der Rest ist dann einfach nur Prozentrechnung, die oftmals viel zu sehr in negativem Stress ausartet.

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  10. Inkrementalismus ist ein sehr gutes Wort 😉 Dieser Beitrag hat mich wieder motiviert an meiner Seite infrarotkabine-24.com weiter zu arbeiten. Vielen Dank dafür!

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  11. Ich denke wir alle sollten uns öfter an Pareto halten.

    Man darf das Leben nicht so objektiv betrachten, denn dafür glauben wir zu oft an Dinge, die wir nicht sehen, anfassen oder nachvollziehen können.

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