Chancen, Probleme und ideale Inhalte für Gehörlose im Internet – Interview mit einer Bloggerin

Chancen, Probleme und ideale Inhalte für Gehörlose im Internet - InterviewHeute gibt es ein sehr interessantes Interview, dass dem einen oder anderen sicher ein wenig die Augen öffnen wird. Bei mir war das auf jeden Fall so.

Es geht um eine gehörlöse Bloggerin, die über Probleme und Möglichkeiten für Gehörlose im Internet spricht.

Zudem gibt es interessante Einblicke in ihre Online-Business-Aktivitäten und Tipps für Einsteiger.

Hallo Judith. Bitte stell dich meinen Lesern vor.

Mein Name ist Judith Harter. Ich bin von Geburt an gehörlos. Seit meinem 32. Lebensjahr habe ich ein Cochlea Implantat (CI), vorher trug ich Hörgeräte. Mit dem CI höre ich die Musik viel intensiver und schöner.

Mein Sprachverständnis ist in Anbetracht dessen, dass ich gehörlos geboren wurde, sehr winzig, weil sich mein Hörgedächtnis nicht herausbilden konnte. Die Geräusche und die Musik kann ich inzwischen sehr gut heraushören, die Stimmen sind immer noch zu komplex für mich.

Zum besseren Verständnis für Hörende: Wenn am Telefon plötzlich nur noch chinesisch gesprochen wird, hört man die Stimme und den Klang, aber man versteht die Sprache gar nicht. So ist es bei mir.

Ich betreibe seit 2006 mein Gehörlosblog sowie seit 2007 die Lippenleser-Agentur. Ich bin Mutter von 2 hörenden Söhnen. Mein Mann ist ebenfalls hörend. In der direkten Kommunikation mit Blickkontakt mit hörenden Mitmenschen verständige ich mich mittels Lippenlesen und Lautsprache. Die Gebärdensprache wende ich im Kreise meiner hörgeschädigten Freunde an.

Wie bist du zum Online-Business gekommen und welche Erfahrungen konntest du bisher sammeln?

Ich wollte schon als Kind etwas auf die Beine stellen. Als Behinderte musste ich mir natürlich öfter “anhören”: “Das schaffst Du nicht”. Nun denn, diesen Traum habe ich immer im Hinterkopf behalten und umgesetzt!

Dem Internet sei Dank kam ich ins Online-Business. Für mich als Hörgeschädigte ist das Internet ein großer Segen, denn ich habe durch das Internet die richtig gute Möglichkeit mit der Vernetzung der Menschen. Ich kann übers Internet direkt mit meinen Mitmenschen kommunizieren. Ob hörend oder taub oder was auch immer.

Meine Erfahrungen im Online-Business bestehen darin, dass ich die Menschen leichter ansprechen und erreichen kann. Und ich kann selbst direkt erreicht werden per E-Mail und Chat. Ohne Telefon und es funktioniert sehr gut.

Du hast eine besondere Fähigkeit. Was ist das?

Meine besondere Fähigkeit ist das Lippenlesen. Da ich gehörlos bin und keine Informationen über die Ohren empfangen kann, muss ich also über meine Augen das Gesagte oder das Geschriebene aufnehmen. So brachte mir meine Mutter sehr früh das Lesen und Schreiben bei. Sie ließ mich täglich Diktate schreiben und Bücher lesen. Auf diese Weise lernte und verinnerlichte ich mit gleichzeitiger Erweiterung meines Wortschatzes das Lippenlesen. Mittels Diktat konnte meine Mutter relativ leicht feststellen, an welcher Stelle ich nicht verstand. Ich bin meiner Mutter sehr dankbar!

Das Lippenlesen ist eine hochkonzentrierte Fähigkeit, bei der die Augen und das Gehirn eng gekoppelt arbeiten. Beim Lippenlesen ist immer ein Mitdenken vonnöten, um das Lippengelesene zu kompensieren. Die Vokale A, E, I, O, U dienen als Träger. Die Konsonanten, unter anderem T, D, N, S – P, B, M – S, Z, muss ich beim Lippenlesen durch das Mitdenken und mit Hilfe des vorhandenen Wortschatzes ergänzen. Wie eine Bildlücke im Wort, die man in den Lese-Lernbüchern für Kinder vorfindet. Diese Lücke muss also ausgefüllt werden beim Lippenlesen.

Bestimmte kurze Wörter sind besonders schwer und nur im ganzen Kontext zu erfassen – hier eine kleine Wortauswahl zum besseren Verständnis: Ton, Mutter, Butter, Rose, Soße

Die Konsonanten können nur im kompletten Zusammenhang richtig erfasst werden, weil sie so nicht 100%ig lippengelesen werden können. Nur die Vokale sind klar zu sehen. Die Konsonanten sind zu ca. 30 % lippenlesbar und könnten R, T, N, S oder D sein.

So kommt beim Lippenlesen mit gleichzeitiger Kombination beim Mitdenken heraus:

  • Der (T)o(n) ist viel zu laut – Thema Klänge, Musik
  • Bitte gib mir die (B)utter – Thema Essen
  • Ruf bitte die (M)utter an – Thema Person
  • Die (R)ose ist schön – Thema Pflanzen
  • Bitte gib mir die (S)oße – Thema Kochen/Essen

Da Hörgeschädigte beim Lippenlesen gleichzeitig mitdenken und kombinieren müssen, um das gesehene Gesprochene auf 100% zu kompensieren, ist damit eine sehr hohe Konzentration mit viel Denk-Arbeit verbunden. Diese besondere Fähigkeit wirkt also im “Verborgenen”, um es mal schön zu sagen.

Wie nutzt du die Fähigkeit Lippenlesen beruflich?

Generell bin ich immer beim Lippenlesen im Gespräch mit meinen Mitmenschen. Als ich mit dem Gehörlosblog im März 2006 startete, erreichten mich darüber immer wieder Anfragen zum Lippenlesen bei Patienten mit Luftröhrenschnitten oder Filme ohne Ton. Ich merkte deutlich, dass meine besondere Fähigkeit Lippenlesen eine Dienstleistung ist, die von hörenden Mitmenschen gebraucht wird. So habe ich die Lippenleserservice aus dem Gehörlosblog herausgetrennt und als eigene Sparte weitergeführt.

Da ich jedoch nicht überall hinfahren konnte, aufgrund meiner familiären Situation als Mutter und meinem Hauptjob als kaufm. Angestellte, stellte ich die Lippenleser-Agentur auf die Beine.
Ich nahm weitere 40 professionelle Lippenleser deutschlandweit mit ins Boot, die sich über die Lippenleser-Agentur vermitteln lassen. Seit 2012 leiten mein Mann und ich gemeinsam die Lippenleser-Agentur. Der Erfolg bis jetzt gibt uns Recht.

Auf der Webseite lippenleser.de kann bei Referenzen nachgelesen werden, wo die Dienstleistung Lippenlesen gebraucht wurde und eingesetzt wird. Dort sind nur die Arbeiten aufgelistet, die auch öffentlich vorgeführt wurden.

Alle anderen Aufträge werden absolut diskret durchgeführt, unter anderem insbesondere die Super8-Filme der Familien. Viele wollen wissen, was in diesen tonlosen Filmen der Lieblingsonkel, die Lieblingstante, die Oma oder Papa, ein Verwandter, ein enger Freund damals im Super8-Film gesagt hat. Das ist ein schönes Familiengeschenk, und eine Bereicherung der Familiengeschichte.

Wie ist dein Blog gehörlosblog.de entstanden? Worüber schreibst du dort?

Das Gehörlosblog.de war eine Badewannen-Idee 🙂

Im Vorfeld liefen aber schon Vorbereitungen: Ich beobachtete, wie vieles im Internet auf die Beine gestellt wurde. Als ich auf den Blogdienst “Blogger” stieß, wusste ich, das ist es! Auch ich will eine Webseite haben, jedoch, ohne zu programmieren. Denn dafür hatte ich überhaupt keine Zeit. Was ich wollte, war, eine Webseite schnell zu generieren und sofort mit dem Schreiben loszulegen.

Ich hatte schon als Kind meine Freude am Schreiben und bekam öfter gesagt, ich solle schreiben. Das Blog-Skript war simpel und schnell. Ich erkundigte mich bei einigen Bloggern und holte mir die ersten Tipps und Anregungen. Ich war auf der Suche nach bestimmten Themen, worüber ich bloggen könnte. Ich war auf der Suche nach einer geeigneten Domain und noch einiges mehr.

Das alles brütete vor sich hin bis zur Badenwannen-Idee. Es lag für mich als Gehörlose auf der Hand, als Gehörlose über die Hörschädigung, deren Auswirkung auf das Leben der Hörgeschädigten und die Kommunikation und die Perspektive als Gehörlose in der hörenden Welt zu beschreiben.

Wie kommst du auf neue Artikelideen und wie viel Zeit investierst du ins Schreiben?

Als Artikel-Ideen liefern mir meine eigene Erfahrungen sowie Google und die soziale Medien wie Facebook, Twitter und Tumblr. Ich habe 2006 mit dem Gehörlosblog angefangen mit dem Ziel, die Leute mit einem Schuß Humor zu unterhalten. Mein “Baby” Gehörlosblog ist zusammen mit mir gewachsen.

War ich am Anfang noch unbeholfen auf der Suche nach Artikel-Ideen, sprudeln mir heute die Ideen nur so rüber und entgegen! Durch das Internet ist die Welt richtig klein geworden, so dass ich schnell an die gewünschten Artikel herankomme für meine Recherchen zum Schreiben. Die Bandbreite ist unglaublich groß. Soviel Vielfalt, die darauf wartet, im Gehörlosblog veröffentlicht zu werden. Ich nehme mir Zeit für das Gehörlosblog, pro Woche ca. 3 bis 5 Stunden. Wenn sehr große Lippenlese-Projekte anstehen, habe ich in dieser Phase keine Zeit zum Bloggen.

Gehörlosblog.de hat im Monat ca. 7.000 bis 10.000 Seitenaufrufe (lt. Google Analytics).

Auf welche Probleme stößt du als Gehörlose im Internet und wie gehst du damit um?

Ich hole mir für mein Online-Business immer wieder Anregungen, Tipps und Tools bzgl. Traffic, Vernetzung, SEO, SEM, Social Media, WordPress und vieles mehr.

Hier habe ich als Gehörlose das Problem, dass ich nicht richtig an die Informationen herankomme in den Formaten Videos, Webinar und Podcasts.

In den Videos werden die Tipps und Tools zwecks Einsatz erklärt. Hier wird aus dem OFF heraus gesprochen, das heißt, der Redner ist entweder nicht oder in einem sehr kleinen Bild in der Ecke zu sehen. Ich bekomme somit nur das mit, was sich meinen Augen bietet.

Eine Erfahrung unter anderem:
Ich bat meine Kinder einmal, für mich ein bestimmtes Video zu übersetzen. Das, was ich im Video sah, war im Gesprochenen gegenteilig. Es wurde im Video die Vorgehensweise gezeigt. Gesprochen wurde, dass diese gezeigten Schritte NICHT durchgeführt werden sollten. Diese Information habe ich als Gehörlose nicht mitbekommen und das wäre für mich gar nicht gut gewesen. Das hat mich sehr irritiert.

Ich finde es sehr schade, dass die Videos ohne Untertitel und ohne Transkripts gezeigt werden bis auf einige Ausnahmen. Youtube hat zwar ab 2010 die Spracherkennungssoftware für die automatische Untertitelung eingeführt, aber diese Untertitel sind für uns Hörgeschädigte eher ein Kauderwelsch. Sie sind somit für uns ohne Nutzen.

Bei den Podcasts, die eher eine Radiofunktion haben, kann ich als Gehörlose nur auf diese Spur starren und komme nicht an die Informationen heran. Hier klicke ich sofort weg. Die Zeit ist mir zu wertvoll, um mir “leere Phrasen” bei der Informationsbesorgung zu erlauben.

Bei den Webinaren kann ich auch nur auf die Präsentationen schauen. Das aus dem Off Gesagte kommt ebenso nicht bei mir an. Es ist so schade, dass es keine Transkripts zum Gesagten gibt. Solche Webinare sind für mich als Gehörlose nur bedingt von Nutzen.

Alles, was für mich als Gehörlose an Informationen fehlt, suche ich lieber nach schriftlichen Informationen. Hierbei hat mich unter anderem deine Webseite SiN sehr oft weitergebracht, weil hier in der Textform informiert wird.

Etwas Gutes, aber kurioses gibt es beim Facebook: Die gedrehten Werbevideos starten ohne Ton und müssen daher untertitelt werden. Da erfreue ich mich glatt an diesen Facebook-Werbevideos. 😀

Welche Tipps kannst du Website-Betreibern geben, um auch Gehörlosen die problemlose Nutzung zu ermöglichen?

Es gibt eine sehr gute Software Dragon Naturally Speaking. Mit dessen Hilfe kann ein Hörender das Gesprochene nach anfänglichem Software-Training schnell in den Text umwandeln lassen und schon ist ein Transkript vorhanden. Die Schriftdolmetscher verwenden dieses sehr gute und ausgereifte Programm für die Untertitelung und Transkripts.

Ich führte selbst einige Tests durch, indem ich einige Videos laufen ließ und gleichzeitig den Mikrofon an den Lautsprecher hielt, damit diese Software Dragon Naturally Speaking das Gesprochene aus dem Video in den Text umwandelte. Das funktioniert nur bedingt, da die Software auf die Stimme des Redners eintrainiert werden muss. Ich hoffte so sehr, ich würde auf diese Weise an das Gesagte in der Textform kommen. Es klappte nicht. Das ist für mich sehr schade!

Ich habe einige Blogger und Internetmarketer angeschrieben, ob sie zu ihren Videos und Podcasts vorhandene Transkripts haben, so dass ich nachlesen könne, was sie im Video lehren. Zu 90 % kamen die Absagen, dass sie für die Video-Aufnahmen keine Textvorlagen haben und bedauerten, mir nicht weiterhelfen zu können. Weil sie frei reden. (Was ist mit dem Text in den Telepromptern, die die Redner beim Videodreh benutzen?) Es gibt meiner Meinung nach soviele Möglichkeiten in diesem Bereich der Videos, Podcasts und Webinaren, die noch nicht optimal genutzt werden.

Es gibt neben mir noch viele andere Hörgeschädigte, die selbstständig, Unternehmer, Freiberufler, Künstler und vieles mehr sind. Ich kenne aber auch Hörende, die selbst nicht so gut mit Videos arbeiten können und aufgrund des Zeitmangels mit einem Transkript besser bedient sind.

Wir sind für Inspirationen dankbar. Wenn uns die Informationsbeschaffung aber erschwert wird bzw. sich als nutzlos erweist, klicken wir die Webseite eben sofort wieder weg.

Als eine gute Vorlage kann Google dienen. Google bietet eine “Zukunftswerkstatt für Bildung” an. Hier komme ich endlich an den Lernstoff heran. Unter jedem Video ist vorbildlich ein Transkript eingebunden! Es ist ein barrierefreies Bildungsportal, auf der auch Gehörlose sowie Sehbehinderte an ihren Lehrstoff herankommen können.

Welche Pläne hast du für die Zukunft?

Ich habe Pläne und ich möchte sie nicht zu früh verraten. 🙂

Zum Schluss würde ich mich über deine wichtigsten Tipps für angehende Blogger freuen.

Meine Tipps für angehende Blogger sind:

  • Fang an! Schreibe mit Freude
  • Fang an! Sei nicht so perfekt
  • Fang an! Wachse mit deinem Blog
  • Liefere guten Content, schreibe in erster Linie für die Menschen.

Für den Anfang kann man blogger.de, wordpress.com als Starthilfe verwenden. Mit der Zeit erweitert man sein Wissen und den Blick über den Tellerrand. Aller Anfang ist immer schwer, aber der erste Schritt muss gemacht werden.

Das ist so wie mit einem sehr schweren runden Stein:
Erst hat man große Mühe, ihn zum Rollen zu bringen. Sobald er anfängt zu rollen, schiebt man nach. Wenn er rollt, dann läuft es rund.

Danke für das Interview

Peer Wandiger

2 Gedanken zu „Chancen, Probleme und ideale Inhalte für Gehörlose im Internet – Interview mit einer Bloggerin“

  1. Finde ich sehr interessant. Gehörlose können im Internet viel umsetzen. Nur bei Videos könnte ich mir vorstellen, dass es noch einige Hürden gibt. Könnten Sie bitte auch einmal einen Beitrag über Blinde im Internet veröffentlichen, das würde mich nämlich auch brennend interessieren. Schönen Tag.

  2. Hallo Judith, hallo Peer,

    ein hochinteressanter, bereichernder Artikel! Danke! Hier lernt man mal eine andere Perspektive der Internet-Nutzung kennen. Und man verlässt für ein paar Minuten mal seine eigene Spur. Wenn ich mir das nächste Video anschaue, werde ich ganz bestimmt an die Schwierigkeiten eines Gehörlosen denken. Klasse, was und wieviele Judith mit ihrem Gehörlosenblog bisher erreicht hat. Ein richtiger Ansporn für jeden Blogger/jede Bloggerin :-)! Natürlich interessiert mich als Schreibtrainerin der Blog auch im Hinblick auf die geschriebene Sprache, die ja für Gehörlose sicher DAS Medium der Kommunikation ist (wenn nicht, bitte ich um Korrektur ;-)).

    Weiterhin viel Erfolg
    Gabriele

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